Menschen halten gemeinsam einen Globus über ihre Köpfe. Foto: ([franckreporter/E+]/Getty Images)

Perspektiven aus den
Kultur- und
Sozialwissenschaften

Geschlecht als eine Differenzkategorie
innerhalb mehrerer Diversitätsdimensionen

Geschlecht spielt in unserer Gesellschaft eine große Rolle und wird als eine zentrale Differenzkategorie verstanden. Deswegen sind Gender Studies vom Anfang an ein inter- und transdisziplinäres Forschungsfeld, das auch das Vergessene und Nicht-Beachtete in jeweiligen Disziplinen kritisch beleuchtet. In der heutigen Frauen- und Geschlechterforschung werden zunehmend mehrere Diversitätsdimensionen mit einbezogen, die mit dem Faktor Geschlecht (oder auch Gender) zusammen gedacht werden müssen. Dazu gehören soziale Herkunft und ethno-kultureller Hintergrund, Alter, Religion / Weltanschauung, sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität und somatische und psychische Beeinträchtigungen.



Geschlecht und Soziale Herkunft

Bis heute bleibt das Verhältnis zwischen den Kategorien Gender und Klasse wenig erforscht, vielmehr geht es oft um die soziale Herkunft. Im folgenden Interview wird näher auf diese Diversitätsdimensionen soziale Herkunft und Klasse in Verbindung mit Geschlecht eingegangen.


Irina Gradinari
Der Klassenbegriff, wie ihn vor allem Karl Marx und Friedrich Engels geprägt haben, braucht in der Gegenwart eine vielfältige Neujustierung und Aktualisierung durch die feministische Kritik in Bezug auf die nicht entlohnte und bis heute wenig beachtete Care-Arbeit, wie auch durch die postkoloniale Kritik in Bezug auf die Entstehung des Kapitalismus aus der Schande der Sklaverei und Kolonialisierung. Auch haben wir es mit einer neuen sozialpolitischen Situation zu tun, etwa der Aufspaltung zwischen dem Globalen Süden und dem Globalen Norden. Im Zuge der Globalisierung ist zudem eine Verlagerung der Produktion in den asiatischen Raum zu beobachten. Welche Verschiebung sehen Sie in der Diskussion zur Klasse heutzutage?
Andrea Seier
Die Verschiebungen, die Sie ansprechen, halte ich für sehr zentral. Der Klassenbegriff kann aus meiner Sicht nicht nur ‚wiederbelebt‘ werden. Er muss vielmehr den Blick auf die aktuellen nationalen und globalen Beschäftigungsverhältnisse schärfen. Auch die Frage, was gegenwärtig als Arbeit gemacht und verstanden wird, ist für diese Neuausrichtung entscheidend. Care-Arbeit haben Sie erwähnt. Auch die zahlreichen neuen Beschäftigungsverhältnisse in digitalen Medien, prekär und weniger prekär, gilt es zu berücksichtigen. Das ‚unternehmerische Selbst‘ ist eine große Herausforderung für den Klassenbegriff, deren genauere Konturierung noch aussteht. Die Intersektionalitätsforschung kann und muss zu dieser Neuausrichtung des Klassenbegriffs einen Beitrag leisten. Auch die Debatte über den Begriff selbst und die Alternativen, die in der Intersektionalitätsforschung und der Soziologie bislang verwendet wurden, wie etwa soziale Differenz und soziale Ungleichheit, gilt es weiter voranzutreiben. Dem Klassenbegriff kommt in diesem Zusammenhang nicht zuletzt eine performativ-strategische Funktion zu, die mit dem Begriff Gender vergleichbar ist. Was auffällt ist, dass derzeit auch ohne präzisen Klassenbegriff eine Fülle von Auseinandersetzungen mit der Thematik in Film, Literatur und sozialen Medien stattfindet, die vor allem die Erfahrung von Klassenunterschieden adressiert. Lauren Berlant spricht in ihrem Buch „Cruel Optimism“ (2011) von der affektiven Dimension von Klassenunterschieden, die etwa im ‚Kino des Prekären‘ eine große Rolle spielen. Die vergleichsweise hohe mediale Präsenz ist nicht zuletzt auch bestimmten Konjunkturen und einer neuen Welle autobiographischer bzw. autoethnographischer Praktiken geschuldet. Die Arbeit an einem intersektionalen Klassenverständnis ist damit aber noch nicht erledigt, sondern beginnt erst langsam. Sie hätte die Aufgabe, über die Beschäftigung mit Klassismus hinaus, der falschen Gegenüberstellung von Identitätspolitik und den ‚echten‘ politischen Fragen entgegenzuwirken. Das scheint mir eine der dringlichsten Aufgaben eines neuen Klassenverständnisses. Die Übersetzung von Didier Eribons Büchern „Rückkehr nach Reims“ und „Gesellschaft als Urteil“ haben hierzu Ansätze geliefert, an die derzeit angeknüpft wird.
Irina Gradinari
In der heutigen Corona-Pandemie scheint es mir, dass vor allem die geschlechtsspezifische, asymmetrische Arbeitsteilung ins kollektive Bewusstsein rückte und daher auch teilweise für Empörung sorgte. Differenziert sich der Klassenbegriff möglichweise erst in der Krise aus und ist eventuell nur für die Krise brauchbar, weil dabei finanzielle und ressourciell bedingte Mängel spürbar und so Klassenantagonismen verschärft werden? Oder spielt der Klassenbegriff weiterhin in der Normalität eine Rolle?
Andrea Seier
Was sich derzeit abzeichnet ist, dass der aus vielen Gründen problematische Begriff der Systemrelevanz Klassenunterschiede eher verdeckt als erhellt. Dabei macht die Corona-Pandemie die Verteilung von Privilegien und Risiken derzeit überaus deutlich und im allerdirektesten Sinne erfahrbar. Wie der Begriff der Systemrelevanz bereits deutlich macht, geht es dabei um die Erhaltung eines ‚Systems‘, nicht um den Schutz von sozialen Gruppen, die der Gefahr einer Ansteckung in besonderer Weise ausgesetzt sind. Diese Klassen- und Geschlechterunterschiede sind allerdings bereits Teil dieses ‚Systems‘, was da erhalten werden soll. Der ‚Erhalt‘ wird somit zu weiteren Verschärfungen des Problems führen. Die Herausforderung wird darin liegen, diejenigen Ungleichheiten, die die Pandemie zurzeit wie unter einem Brennglas vergrößert, als strukturellen Teil des Systems zu adressieren, nicht als Ausnahme. Nur auf diese Weise ließe sich einer Verschärfung der Situation entgegenwirken. Immerhin geraten Frauen als „Verliererinnen der Krise“ etwas deutlicher in den Blick. Frauen arbeiten allerdings als Prostituierte oder Professorin, mit und ohne ‚Doppelbelastung‘ usw.
Irina Gradinari
Ich finde, die Brisanz Ihrer Forschungsperspektive, die Sie schon seit langem verfolgen, besteht in der Zusammenfügung der Frage nach der Klasse mit der Medialität. Hier möchte ich zum Beispiel Ihren Sammelband zus. mit Thomas Waitz, Klassenproduktion (2000), und die Ausgabe der Zeitschrift für Medienwissenschaft mit dem Schwerpunkt Klasse (2018), zus. mit Ulrike Bergermann hervorheben. Könnten Sie vielleicht ein paar Worte dazu sagen, zum Beispiel über die Notwendigkeit solcher Forschungsperspektiven?
Andrea Seier
Ich halte die Auseinandersetzung mit Klassenfragen innerhalb der Medienwissenschaft sowohl in der Forschung als auch in der Lehre für zentral. Aus der Sicht der Medienkulturwissenschaft lassen sich hier noch sehr viele ‚Baustellen‘ bearbeiten. Was mich derzeit beschäftigt ist etwa, mit welchen Szenarien, Bildern und Erzählungen der Rückgang sozialer Mobilität in Medien wie Film, Fernsehen, Literatur, Kunst und digitalen Medien adressiert wird. Berlants Konzept des Cruel Optimism ist dabei hilfreich, insofern sich damit nicht nur ‚Inhalte‘ untersuchen lassen, sondern auch Erzählweisen, Formen der Visualisierung und damit einhergehende affektive Dimensionen, die darauf hindeuten, das zur Politik der Klassenunterschiede auch ein spezifisches Affektregister gehört, wie etwa die Schuld und Scham von Klassenaufsteiger_innen, die in Kunst und Medien verhandelt werden. Aus dieser Perspektive sind diese medialen Auseinandersetzungen kein ‚Nebenschauplatz‘, sondern wichtiger Bestandteil von Auseinandersetzungen über gesellschaftliche und politische Transformationsprozesse.
Ein Vater in der Küche mit zwei Kleinkindern. Foto: ([Halfpoint Images/Moment]/Getty Images)

Geschlecht in gesellschaftlichen
Transformationsprozessen

Ein Beitrag von

Der Audio-Vortrag von Prof.‘in Dr.‘in Katharina Walgenbach (Lehrgebiet Bildung und Differenz, FernUniversität in Hagen) adressiert aktuelle Entwicklungstrends in Westeuropa, die auf eine Transformation von Geschlechterverhältnissen in der Spätmoderne hindeuten. Ausgehend von sozialwissenschaftlichen Zeitdiagnosen, die auf eine Neuordnung von Ökonomie, Staat, Familie und Subjektformationen verweisen, diskutiert Walgenbach ausgewählte Felder der Transformation von Geschlecht: (1) Paradigmenwechsel vom männlichen Ernährermodell zum Adult Worker Model, (2) dessen Folgen für Männlichkeitskonstruktionen, (3) aktuelle Transformationsprozesse von Sorgearbeit, (4) neue Spaltungen bzw. Formen partieller Integration sowie (5) Tendenzen zur Dethematisierung von Geschlechterungleichheiten. Der Audio-Vortrag basiert auf dem Artikel: Walgenbach, Katharina (2015): Geschlecht in gesellschaftlichen Transformationsprozessen. In: Walgenbach, K./Stach, A. (Hrsg): Geschlecht in gesellschaftlichen Transformationsprozessen. Opladen: Budrich Verlag 2015, S. 21-51.


Buchumschlag
Quelle: FernUniversität in Hagen

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Geschlecht in gesellschaftlichen Transformationsprozessen



Empirische Bildungsforschung und ihre Zugänge

Geschlecht als Differenzkategorie wird auch von der Bildungsforschung analysiert und diskutiert. Aufgrund der Auswirkungen von Geschlecht als Kriterium in vielen Diversitätsdimension, ist die erziehungswissenschaftliche Geschlechterforschung und ein Genderbewusstsein für die Empirische Bildungsforschung von hoher Bedeutung. Im folgenden Kurzvideo geben Prof.‘in Dr.‘in Julia Schütz und ihre Mitarbeiterinnen Nora Berner und Dr.‘in Johanna Pangritz einen Einblick in die Fragestellungen in der Empirischen Bildungsforschung und stellen den Sammelband „Methoden und Methodologien in der erziehungswissenschaftlichen Geschlechterforschung“ vor, der von Prof.‘in Dr.‘in Julia Schütz mit herausgegeben wurde.


Quelle: FernUniversität in Hagen

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Geschlecht und berufliche Bildung

Bei der Betrachtung des deutschen Bildungs- und Beschäftigungssystems zeigt sich Geschlecht erneut als Differenzkriterium. Betrachtet man beide Systeme ergeben sich in Bezug auf das Geschlecht verschiedene Perspektiven und Entwicklungen sowohl im positiven als auch negativen Sinne. Im nachfolgenden Video zeigt Prof. Dr. Uwe Elsholz die‚ Ungleichzeitigkeiten‘ zwischen beiden Systemen auf und erläutert zudem die ungleiche Verteilung von Chancen und finanziellen Mitteln.

Quelle: FernUniversität in Hagen

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Einführung in die Queer Theorie

Queer Theorie betont ein Verständnis von Differenz, das nicht auf scheinbar stabilen, klar umrissenen Identitäten beruht; ein dynamisches, kontextbezogenes und relationales Verständnis von Differenz. In diesem Sinne interessiert sich Queer Theorie für die mögliche Vielzahl von Geschlechtern und deren innere Mannigfaltigkeit und Veränderlichkeit. Queer Theorie und Queer Studies fragen aber auch, wie sich Geschlecht als soziales Differenzkriterium verändert, wenn in Betracht gezogen wird, wie sich Geschlechtlichkeit als migrantisierte oder dominanzkulturelle, als homo- oder heterosexuell, trans*, inter* oder cis ausprägt, durch Rassisierung sowie soziale und geo-politische Herkunft beeinflusst ist und kommt in unterschiedlich befähigten Körpern zum Ausdruck.  

Unter den Titeln KÖRPER (20:16 min), FIGURATIONEN (13:16 min) und WELTEN (16 min) führen die Videos von Gastprofessor*in Antke Antek Engel und Filmfetch in Queer Theorie und Queer Studies als einem transdisziplinären Forschungsfeld ein, in dem intersektionales Denken eine wichtige Rolle spielt. Inhaltlich lautet die Leitfrage: Wie werden in den Queer Studies Geschlechterverhältnisse im Zusammenspiel mit weiteren Dimensionen sozialer Ungleichheit und im Hinblick auf nicht-hierarchische Formen von Differenz untersucht, erklärt und kritisiert? Anliegen ist es, Queer Theorie als eine Form komplexer Macht- und Herrschaftsanalyse zu vermitteln, die sich der widersprüchlichen Herausforderung stellt, Differenz als soziale Ungleichheit zu bekämpfen und zugleich Differenz im Sinne von Einzigartigkeit und Besonderheit zu schützen und zu befördern.

Link zu den Videos: e.feu.de/queer-theory-videos

Erprobt werden experimentelle Darstellungsweisen, die Form und Inhalt gezielt miteinander verknüpfen. Denn wenn es, wie in den Gender und Queer Studies, darum geht, Identität und Differenz so zu präsentieren, dass Stereotypisierungen, Othering-Prozesse, Hierarchien und symbolische Gewalt vermieden werden, hängt die Frage, was dargestellt wird unmittelbar mit der Frage zusammen, wie dargestellt wird.


"Erste Eindrücke nach dem Schauen der Videos"


Antke Antek Engel im Gespräch mit Steffen und Irina

Quelle: FernUniversität in Hagen

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Antke Antek Engel im Gespräch mit Ally und Conny, Studierende im M.A. Bildung und Medien: eEducation

Quelle: FernUniversität in Hagen

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Die Zeigefinger eines Menschen und eines Roboters berühren sich. Foto: ([Yuichiro Chino/Moment]/Getty Images)

Ein Beitrag aus dem Forschungsschwerpunkt
Gender Politics

Wenn auch dieses Thema auf den ersten Blick eher in den Bereich von Mathematik und Informatik fällt, so leisten auch die Geisteswissenschaften einen zentralen Beitrag dazu und müssen unbedingt mit einbezogen werden bei der Entwicklung von Künstlicher Intelligenz

KI-Systeme ‚denken‘ immer so wie die Daten, auf denen sie basieren, es ihnen gelehrt haben. Schieflagen in den Daten spiegeln sich also auch in der Funktionsweise des KI-Systems wider. Daher ist es von großer Bedeutung, Fragen nach Gender und damit intersektional verknüpften anderen hierarchisierenden Differenzdimensionen bei Entwicklung und Einsatz von sowie Reflexion über KI-Systeme einzubeziehen.

Mit diesen Fragen nach Gender und KI beschäftigt sich der folgende Podcast, den Jeanette Roche aus dem Team der literatur- und medienwissenschaftlichen Genderforschung an der FernUniversität in Hagen mit Sana Shah, einer Mitarbeiterin von AlgorithmWatch, geführt hat.


Podcast von Jeanette Roche mit Sana Shah

Symbolbild
Quelle: FernUniversität in Hagen

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