young girl blissfully eating watermelon Foto: young girl blissfully eating/Greg Lawler/Getty Images watermelon

GenderBites

Bisse oder Bissen von Geschlecht

Was sind Gender Bites?

Gender Bites – Bisse oder Bissen von Geschlecht – stellen ein neues digitales Medienformat dar, das die Vermittlung von Inhalten der Gender und Queer Studies in eine breitere oder in gezielte Öffentlichkeit/en ermöglicht.

Gender Bites sind multi- oder inter-mediale Gebilde (Artefakte), die ausgehend von den Lebenswelten der Produzierenden (z.B. Studierenden) Untersuchungs- und zugleich Vermittlungspraktiken erproben. Es entstehen Kurztexte, Audiobeiträge, Videos, Text-Bild-Collagen oder Comics. Diese übersetzen Erfahrung in Forschung und Forschung in Erkenntnis – sowie in offene Fragen und Irritationen.

Zur Verwendung von ‚ens‘ (dem Mittelteil von ‚Mensch‘ als Endung oder Pronomen einer genderfreien Schreib-/Sprechweise vgl. Hornscheidt, Lann/Sammla, Ja'n (2021): Wie schreibe ich divers? Wie spreche ich gendergerecht? Ein Praxis-Handbuch zu Gender und Sprache. Hiddensee: w_orten & meer. Darin: S. 50- 61)

Gender Bites sind kleine Bissen: manchmal ‚leckere Häppchen’, manchmal ‚schwerer verdauliche Brocken’, bissfest oder auf der Zunge zergehend. In genau dieser Ambiguität erscheinen sie als kritische Umarbeitung so genannter Nudges, einem Konzept der Wirtschaftspsychologie zur Verhaltensänderung. Im Unterschied zum Nudge, dem medial vermittelten Stups oder Schubs, gibt das Gender Bite nicht vor zu wissen, wie sich Verhalten verändern muss, um eine bessere Welt zu schaffen. Vielmehr stellt ein Gender Bite Fragen an Prozesse der Wahrheitsproduktion und befasst sich kritisch mit Darstellungsweisen und Vermittlungsformen.

Mittels Gender Bites wird Wissen gewonnen und Wissen vermittelt. Zugleich aber laden Gender Bites ein, Fragen zu stellen, genauer zu untersuchen, und sich auf produktive Verwirrung einzulassen. Sie können als Bausteine einer potenziellen Theoriebildung erscheinen. Anhand der Gender Bites werden die theoretischen, bildungswissenschaftlichen Dimensionen der „Queer Pädagogik“ mit der Medien- und sozialen Kompetenz der Produzierenden/Studierenden verschaltet. Anliegen ist es, den Umgang mit Heterogenität und Kompetenzen des Queering zu fördern.

Die folgenden Gender Bites sind in mehreren B.A. und M.A.-Seminare entstanden, die Nadja Körner, Naomi Röers und Dr. Susanne Winnerling in 2021/2022 gemeinsam mit Gastprofessorens Prof.* Dr.* Antke Antek Engel im Lehrgebiet Bildung und Differenz sowie im StudyFit-Programm der FernUni Hagen gegeben haben.

Hervorzuheben ist, dass Gender Bites nicht allein für Wissenschaft und Forschung bestimmt sind. Sie sollen für unterschiedliche Personengruppen zugänglich sein und alltägliche Themen aufgreifen, um dadurch Prozesse der Veränderung anzuregen.

Geschlecht ist für das Leben der Einzelnen bedeutsam und organisiert gesellschaftliche Verhältnisse. In unserer Gesellschaft sorgen Stereotype dafür, dass Menschen, aufgrund einer sozial und kulturell bestimmten Geschlechtszugehörigkeit, Eigenschaften zugeschrieben werden, welche sie an eine binäre Sichtweise und hierarchische Wertung binden.

Wenn heute von einer Vielfalt der Geschlechter die Rede ist, fordert dies binäre Stereotype heraus. Können aus dem „Muss“ und „Soll“ von Stereotypen Möglichkeiten für Individualität erwachsen?

Andrea Hoffmann, Claudia Schönsee und Christine Seiler machen es durch ihre Darstellung binärer Geschlechterstereotype möglich, Bestehendes zu hinterfragen und einen Aufbruch zu symbolisieren.



Objects aren’t forever


Eine digitale Grafik, die im Hintergrund in leuchtenden Regenbogenfarben einen stilisierten Vorhang zeigt; davor, beinahe die gesamte Bildfläche einnehmend, ein grafisch gehaltener Diamant, die Spitze nach unten. Auf den einzelnen „geschliffenen“, in verschiedenen Grautönen gehaltenen Flächen stehen die folgenden Kurztexte: Für deine Zukunft sehe ich weiß Deine Großeltern sind bestimmt auch aus München Musst du Deine schönen Haare so zeigen! Kein Wunder, wenn man sich als junges Männlein so anzieht … Du brauchst nur einen richtigen MANN Wie sieht es bei ens mit der Familienplanung aus mit Mitte 30 … Hast du nicht Angst, dass Deine Kinder auch hetero werden ? Du bist ja ein richtiger Powermann Du hast es als Mann wirklich weit gebracht ! LÄCHEL DOCH MAL, Rüdiger Oh mein Gott, sie hat tatsächlich lackierte Fingernägel So ein Männleinwunder Deutsch kannst du zu Hause sprechen , aber nicht hier Ich bin letztens beim Weißfahren erwischt worden NO HETERO NOBINARITY Foto: Andrea Hoffmann / Claudia Schönsee / Christine Seiler

Folgende Fragen können bei der Betrachtung aufkommen:


Welche Erwartungen erfüllt man selbst? Welche (warum) nicht? Welche will ich nicht erfüllen? Was will ich nicht erfüllen? Inwiefern soll ich es erfüllen? Welche Erwartungen / Vorstellungen hat man ggf. selbst gegenüber Anderen und warum? Zum Einsatz kommt die Strategie, Sätze “umzudrehen” - wie wird das Objekt zum Subjekt? Oder wie wird ein Mann ein Objekt? Erkennt man aus den Sätzen Mann und Frau? Sind die Geschlechterverhältnisse erkennbar?

Die Auseinandersetzung mit binären Geschlechterstereotypen erfolgt durch Darstellung eines klassischen Diamanten (im Sinne des Schliffs nach einer genormten Form). Die einzelnen geschliffenen Seiten stehen für eine Umkehr der Subjekt–Objekt Betrachtung. Es sollen Normen aufgebrochen oder zumindest zur Reflektion angeregt werden. Das Aufbrechen der Normen wird mit dem Bruch des Diamanten bildlich dargestellt. Die Binarität soll durch die Schwarz-Weiß-Darstellung des Diamanten verdeutlicht werden. Im Hintergrund sind die Farben des Regenbogens zu sehen. Dies soll den Aufbruch und die Veränderung symbolisieren, welche eingebettet ist in der Akzeptanz und der der Vielfalt von Lebensformen. Material: Software zur Erstellung des Diamanten: Diamant erstellt mit paint 3d, Schriftzüge mit Word


Das Hinterfragen der binären Einordnung von Menschen, kann auch als gesamtgesellschaftliche Aufgabe betrachtet werden. Schon im frühen Alter werden Kinder vor die Aufgabe gestellt sich Kategorien unterzuordnen. Sie müssen sich oder werden von anderen in Schubladen der geschlechtlichen Zugehörigkeit gesteckt. Der Ausbruch aus solchen Schubladen ist häufig mit Schwierigkeiten verbunden. Kindergärten, Schulen und außerschulische Bildung können entweder die Durchsetzung rigider Normen, auch um den Preis der Diskriminierung, durchsetzen oder Kinder und Jugendliche in der Entfaltung ihrer geschlechtlichen und sexuellen Persönlichkeit befördern.

Melanie Talmon und Tatjana Huhn zeigen in ihrem Beitrag die Kategorisierung nach „Sex, Gender und Desire“ auf und betonen die Zugehörigkeitsproblematik, die damit einher gehen kann. Hervorgehoben wird, welche Effekte es hat, wenn Schulen Unterordnung fordern, und wie den Kindern durch eine Queere Pädagogik Möglichkeiten eröffnet werden können.



Heteronormativität in Schulen


Quelle: Melanie Talmon und Tatjana Huhn




Im Zentrum des Videos „Heteronormativität an Schulen“ steht das Bild eines Flusses, in den die Menschen hineingeworfen werden. Dieser Fluss steht für die Heteronormativität. Einmal hineingeworfen, müssen Menschen Wege finden, mit der Heteronormativität umzugehen – und diese Umgangsweisen können unterschiedlich sein. Ebenso wie der Fluss veränderlich ist, beständig und gleichzeitig immer im Fließen. Das Video fragt kritisch nach den Aufgaben und Möglichkeiten von Schulen, Menschen in diesem Lernprozess zu unterstützen

Das Video mit dem Titel „Heteronormativität an Schulen“ besteht aus Standbildern, die mit Effekten, Texten, Musik und Geräuschen ergänzt und erklärt werden und so einen Verlauf entwickeln, in dem die Zusehenden sowohl kognitiv wie auch emotional angesprochen werden. Es besteht aus drei Teilen. Am Anfang steht die Erklärung zur Heterosexuellen Matrix (Butler 1991). Dort wird auf die Binarität und auf die verschiedenen Gender-Identitäten und sexuellen Orientierungen eingegangen. Dieser Teil endet mit der Benennung der Ein- und Ausschlüsse.

Im zweiten Teil kommt dann das Bild eines Flusses, in den die Menschen hineingeworfen werden. Dieser Fluss steht für die Heteronormativität. Dieses "Reinwerfen" kann schwanken zwischen einem „brutalen Hineingestoßen werden“ und einem „kleinen Schubs“, was von vielen Faktoren abhängig ist. Hineingeworfen werden die jungen Menschen von der Schule, aber auch vom Elternhaus und der Gesamtgesellschaft. Der Fluss steht an dieser Stelle nicht für die Heteronormativität als zu erklärendes Objekt, sondern für die heteronormativen Strukturen. Für das Zurechtkommen in diesen Strukturen. Für das Finden seines eigenen Weges. Für Schwimmen, Fliegen oder Ertrinken…

Der Fluss soll für etwas stehen, was beständig ist und gleichzeitig immer im Fließen. Der Verlauf eines Flusses verändert sich stetig, aber langsam, so wie auch gesellschaftliche Strukturen sich langsam verändern. Ein Fluss kann auch natürlich oder eben künstlich angelegt (konstruiert) sein, wie dieser in diesem Video dargestellte. Zudem kann ein Fluss schön und angenehm sein. Ein kühles Bad im Sommer oder eine Schifffahrt mit Freunden, aber eben auch gefährlich und unwegsam, es gibt Strudel und Felsen…

Es gibt verschiedene Wege wie man in diesem Fluss zurechtkommen kann. Dies kann je nach Passung zur Heteronormativität leicht und angenehm sein. Wie beispielsweise auf dem Segelschiff (aber auch dort gibt es Nachteile) oder eben auf der Galeere, wo das Fortkommen einer Strafe ähnelt. Es gibt Menschen, die einfach am Ufer entlanglaufen oder eben andere die fliegen. Der Fluss hat eine Strömung, die eine Richtung vorgibt und wer nicht in diese Richtung möchte, muss ungleich viel mehr Energie aufwenden, um vorwärtszukommen. Damit soll auch klar sein, dass es verschiedene Positionen in diesem System gibt und nicht alle Menschen gleichermaßen darin positioniert sind. Auch das Thema Hierarchien wird an diesem Punkt eine Rolle spielen.

Im dritten Teil werden Ideen für eine queere Pädagogik benannt und das Flussbild aufgelöst.

Viel Spaß auf unserer kleinen Reise…



Nicht nur Schulen können Menschen durch eine Queere Pädagogik die Möglichkeit zur eigenen Entfaltung geben. Auch Eltern tragen eine große Verantwortung für die Entwicklung ihrer Kinder. Schon vor der Geburt oder in einem frühen Altern, werden Kindern gesellschaftliche Stereotype aufgezwungen, durch bestimmte Farben, Kleidung oder Spielzeuge. Auf diese Weise zwingen Eltern ihren Kindern bestimmte geschlechtliche und sexuelle Entwicklungen auf, um einer Norm zu entsprechen.

Anita Selter zeigt in einer bildlichen Darstellung einen möglichen Verlauf einer von Geburt an geforderten Unterordnung. Die Bedürfnisse der Mutter bezüglich der geschlechtlichen und sexuellen Identität des Kindes stehen im Vordergrund. Durch die Abbildung eines Zeitabschnitts im Leben des Kindes, zeigt Anita den Einfluss, den die Vorstellung der Mutter haben kann.



Wie normal ist normal?

Ein digital gezeichnetes Comic-Poster, das in der oberen Hälfte einen auf beiden Seiten abgerissenen Filmstreifen vor hellblauem Himmel zeigt. Die vier sichtbaren Bilder zeigen eine Entwicklung von der Geburt bis zum erwachsen Auszug in die Welt, die durch Geschlechtsnormierung und „Nicht-Passen“ gekennzeichnet sind. In der unteren Bildhälfte sind fünf Autos zu sehen, die ein Autokino darstellen. Sprechblasen über den Autos drücken Diffamierungen, Unverständnis, aber auch Solidarität aus.  Foto: Anita Selter

Das Gender Bite wurde in Form eines abgerissenen, in vier Szenen aufgeteilten Filmstreifens dargestellt, der vor der Kulisse eines Autokinos abgespielt wird. Die Enden beider Seiten sind abgerissen, sodass Beginn und Ausgang dieser Sequenz offenbleiben und Raum für weitere Gedanken bieten. Die Nutzung des Mediums Film soll veranschaulichen, dass es sich bei den dargestellten Inhalten um Prozesse in Gesellschaften handelt, die wie Filme schier unendlich ablaufen. Die erste Szene beinhaltet die Schwangerschaftsuntersuchung einer Frau, die vom untersuchenden Arzt gefragt wird „Was darf es denn sein?“. Diese Frage bezieht sich auf die durch die Eltern für ihr Kind aufgrund vermeintlich eindeutiger, weiblicher oder männlicher biologischer Merkmale angedachten „normalen“ Geschlechterrolle, die dann den Ausgangspunkt für darauffolgende determinierende Sozialisationsprozesse bildet. Auf dem zweiten Bild ist ein nicht zentral sitzendes Kleinkind in seinem Zimmer dargestellt. Windel, diverse Gegenstände und Kinderbett sind in Farbe und Auswahl so gestaltet, dass sie als Hinweis auf die männliche Sozialisation durch die Eltern dienen, wobei sich die Frage aufwerfen kann, warum gerade diese Assoziation beim Betrachter ausgelöst wird. Das Kleinkind wurde dezentral platziert, da die folgenden Sozialisationsprozesse nicht auf die Individualität des Kindes gerichtet sind, sondern auf das gewünschte Resultat. Im Zentrum dieser Szene ist ein auf dem Ohr des Kindes sitzender Schmetterling dargestellt, dessen farbliche Gestaltung der von Daniel Quasar entworfenen Progress-Flag ähnelt (Quasar, o D.). Diese Symbolik wurde als Hinweis auf die dem abgebildeten Sozialisationsgeschehen nicht entsprechende Geschlechtsidentität des Kindes gewählt. Ein der Mutter zuordenbarer Arm hält eine Fliegenklatsche. Mit den Worten „Sitz still. Ich hab´s gleich.“ möchte sie den Eindringling bzw. das Unnormale vertreiben. Doch dazu muss sie ihrem Kind auf den Kopf schlagen, was auf die dadurch entstehende große Verletzung des Kindes durch den Ausschluss des für die Mutter als unnormal Empfundenem hinweist, d. h., sie möchte ihre Normalität mithilfe abnormaler Mittel erzwingen. Die dritte Szene stellt vor tristem Hintergrund dar, wie das Kind die Schuhe der Mutter anprobiert, jedoch aufgrund der verletzenden Reaktionen der im Hintergrund befindlichen Kinder und der eigenen Mutter sehr traurig wirkt. Die Wortwahl Letzterer „Du willst doch nicht schwul werden?“ bringt darüber hinaus ihre innere Haltung zum Ausdruck, da sie davon ausgeht, dass die Geschlechtsidentität eines Menschen lediglich das Resultat willentlich ablaufender, steuerbarer Prozesse ist, die durch die Auswahl passender Kleidung etc. beeinflusst werden. Die letzte Szene beinhaltet vor freundlichem Hintergrund, eine kaum sichtbare, auf einem Weg befindliche Person am rechten Rand, die ein rotes Kleid trägt und die gleiche Frisur hat wie das Kind der vorangegangenen Szenen, sodass der Betrachter daraus schließen kann, dass sich der*die Protagonist*in der Determinierung der bisherigen Sozialisation entzieht. Die Kommentare der in ihren Autos befindlichen Zuschauer*innen reichen von Verständnis für beide Seiten bis hin zu verbaler Beleidigung und sind ein Hinweis auf das ebenfalls breite Spektrum gesellschaftlicher Resonanz.



Geschlechterzuschreibungen bei Kindern geschehen in vielen Alltagsituation. Es beginnt mit dem gesellschaftlichen Wunsch möglichst früh Kinder in eine geschlechtliche Kategorie einzuordnen, z.B. um das Kinderzimmer in der „richtigen“ Farbe zu gestallten. Blau oder Pink?! In Kindergärten, beim Spielen, in der Schule oder auch nur bei dem Gang auf die Toilette: Das Geschlecht einer Person wird immer wieder in den Mittelpunkt gerückt und kategorisiert.

Kinder und Eltern erfahren im Leben immer wieder Situationen, in denen von ihnen erwartet wird, dass sie sich der Heteronormativität unterordnen. In ihrem anschaulichen Video führt Petra Lambrich Lebenssituationen vor Augen, in denen genau solche Stereotype Eltern und Kinder konfrontieren. Sie zeigt auf, welche Fragen es zu hinterfragen gilt, um seinen Kindern eine möglichst selbstbestimmte Entwicklung zu ermöglichen.



Szene einer Kindheit


Quelle: Petra Lambrich
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Der folgende Beitrag transponiert den Aspekt der Genderkonformität in den gesellschaftlichen Metakontext und skizziert augenzwinkernd die soziologischen Strukturen der Heteronormativität.

Autorens Elba Capdevila ist Bildungswissenschaftlerin. In der Schnittmenge von Kunst und Wissenschaft bereitet Elba komplexe soziologische Zusammenhänge literarisch auf. Hier: als Lesedrama der unerwarteten Begegnung zweier Koryphäen der Gesellschaftskritik mit überraschendem Ausgang.



Butler meets Bourdieu: Ein Gespräch über symbolische Gewalt und Sprache


Berkeley, Kalifornien, 4. April 1996. Trottoir vor einem Brautmodengeschäft. Es treffen sich zufällig: Judith Butler und Pierre Bourdieu.

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Neben einer von Normen geprägten Gesellschaft schafft institutionelle Macht Regeln und setzt Grenzen, in denen wir uns zu bewegen haben. Die Selbstwahrnehmung wird vorbestimmt durch ein binäres System.

Androgynie wird als Teil der Vielfalt gefangen gehalten von Schlingen der Typisierung. Dennoch haben Menschen Möglichkeiten, aus dieser Einengung auszubrechen und nach Formen eines selbstbestimmten Lebens zu suchen. Dies verdeutlicht Nicole Spliethoff in ihrer Skulptur „Verwicklungen“.

Ein freies Leben mit sexueller und geschlechtlicher Selbstermächtigung ist mit einem Prozess des Ausbrechens verbunden. Durch Gender Bites kann das Hinterfragen und Neukonstruieren von Überzeugungen gefördert werden, mit der Folge, dass Queeres zur alltäglichen Realität wird.



Verwicklung



Quelle: Nicole Spliethoff


Bei dem Gender Bite handelt es sich um eine Skulptur, in deren Mittelpunkt ein Pädagogens in Form einer androgynen Figur dargestellt ist. Über der Figur "schwebt" ein (Papst)Kreuz, von dem aus sich schwarze Bänder, hinabwinden und die Figur einwickeln. Damit sollen die institutionelle Machtstrukturen dargestellt werden, die durch die Privilegierung von Heterosexualität, Zweigeschlechtlichkeit und geschlechtsspezifischen Verhaltensweisen gemäß der "Matrix der Intelligibilität" (Butler, 2021a) zum Ausdruck kommen.

Das schwarz-weiße Kabel, das ebenfalls von oben in die Figur hineindringt, symbolisiert binäre Denkmuster, die über die Dauer und durch stetige Wiederholung irgendwann im Sinne einer Subjektivation (Butler, 2021c) einverleibt werden. Die Figur selbst steht auf einer farbig gestalteten und beweglichen Platte, in dessen Zentrum sich die schwarz-weiße Formation, als Symbol für eigene, frühere heteronormative Sozialisationserfahrungen, wiederholt. Die violettfarbenen Kreise stellen mögliche Wünsche und Begehrensformen dar, die nicht mit den hegemonialen Heterosexualitätserwartungen vereinbar sind und die (auch die eigenen) binären Denkstrukturen irritieren, herausfordern und in Bewegung bringen können. Die weiteren Spiralfelder sind farbig nach Goethes Farbenlehre so gestaltet, sodass stets eine "reine Farbe" klar abgegrenzt neben einer "Mischfarbe" (gelb-violett, blau-orange, rot-grün) steht. Am Rand der Platte, befindet sich eine Spielfigur (Kind), die der pädagogischen Figur zugewandt ist und eine Maske in den Händen hält. Diese Spielfigur steht für die pädagogische Beziehung, in der sich entweder eigene Negativerfahrungen (z.B. durch Effekte von Verwerfungen) reproduzieren (Debus, 2021, S.113f), oder zu Selbstreflexionen sowie einer geschlechterreflektierten pädagogischen Haltung (Debus, 2021, S.344ff.) führen kann. Am hinteren Rand der Platte wurden die Verwerfungen in Form von Masken und die nicht-lebbaren Zonen als graue Felder dargestellt. Durch das Drehen der Scheibe und der Verwirbelung der klar voneinander getrennten Farbfelder, soll zum einen die Dynamik, Destabilisierung und VerUneindeutigung (Engel) symbolisiert werden, zum anderen soll die Beweglichkeit deutlich machen, dass es sich beim Queering immer auch um einen fortlaufenden Prozess handelt. Zusammen mit der VerUneindeutigung durch die Androgynität und dem Paradox der Normen als Bondage-Konstellation, wird hier neben der dargestellten Problematik auch eine mögliche Lösung angeboten, die aufgenommen und weiterentwickelt werden kann. Eine weitere mögliche Lösung wird durch den Spiegel hinter der Maske als Symbol für Selbstreflexionsprozesse angeboten. Die Schere soll, -in Kombination mit dem Zitat- zeigen, dass eine mögliche Lösung auch sein kann, sich aus fesselnden Strukturen zu lösen, wenn auf anderen Wegen keine Veränderung möglich ist.

Es wurden keine Änderungen an den Masken vorgenommen, sie wurden in der Skulptur künstlerisch so verwendet, dass sie in keinem Zusammenhang zu ihrem Ursprung stehen. Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Lizenzgeber weder das Projekt in dessem Zusammenhang die Skulptur angefertigt wurde noch die Künstler*in der Skulptur in irgendeiner Weise unterstützt. Die Verwendung der Masken wurden ausschließlich zur nicht-kommerziellen Nutzung verwendet.



Durch die Aufklärung der Gesellschaft über geschlechtliche Selbstverständnisse und Zugehörigkeiten können Schubladen umgangen werden und es kann eine gewisse Freiheit vom Denken in Kategorien gewonnen werden. Die Fragte stellt sich, welche Wahlmöglichkeiten Menschen haben und wie sie, obwohl eingebunden in soziale Beziehungen, ihr geschlechtliches und sexuelles Leben nach eigenen Vorstellungen gestalten können.

Melina Laus Collage „Choice! Choice?“, zeigt auf, was es bedeutet eine Wahl im Hinblick auf sexuelle Orientierung, Begehren und Geschlechtsidentität zu haben. Mit der Verwendung von Ausrufezeichen und Fragenzeichen, weist Lau darauf hin, dass Menschen unter heteronormativen Bedingungen wählen müssen (wähle!) und fragt, ob dies wirklich eine Wahl ist (choice?). Ausrufe- und Fragezeichen können sich jedoch durchaus auch auf die “bunte Vielfalt“ der mittleren Tür beziehen.


Choice Choice?

Collage Quelle: Melina Lau // Credits: Bildvorlagen der Collage: PicArts